Dinge, die du unbedingt erfahren solltest …

Aber nicht über deine Mutter … In «All the Sex I've Ever Had» am Neumarkt blicken 65-Plus-Jährige auf das pralle Leben.

Was war wichtig? Was ist wichtig? Die fünf Personen auf der Neumarkt-Bühne in «All the Sex I've Ever Had» kommen aus unterschiedlichen Regionen der Schweiz, vom Tessin bis in die Ostschweiz. Sie alle sind über 65 Jahre und haben sich für diese Performance casten lassen. Vielleicht könnten sie vom Alter her, wie in meinem Fall, deine Eltern sein. Sie werden in den nächsten 100 Minuten über ausgewählte Höhen und Tiefen ihres Lebens, über Momente des Glücks, der Verzweiflung und der Gefühle dazwischen sprechen – und zwar entlang ihrer persönlichen Erfahrungen mit Lust, Sex, Erotik oder der Abwesenheit davon. Ihre Erzählungen sind stellenweise von kühner Schönheit, zartem Humor und einem bemerkenswerten Blick auf andere und sich selbst. Manchmal ist das Schicksal aber auch so präzise und heftig, dass mir als Zuschauerin die Erschütterung durch Mark und Bein geht. Klar ist: Diese fünf Personen sind sehr offen und sehr mutig, sie exponieren sich.

«All the Sex I've Ever Had» wurde von der in Toronto beheimateten Kompagnie Mammalian Diving Reflex im Jahr 2010 ins Leben gerufen. Seither tourt das Format rund um den Globus mit Stationen in Bochum, Helsinki, Ljubljana, Chicago, Kyoto oder Taipei – um nur einige zu nennen. Wer heute 65+ ist, wurde in den 1940er-Jahren geboren: Und dort beginnt denn auch die Lust- und Sex-Chronik zusammengefügt aus den Miniaturen von Nicoletta, Heidi, Rosmarie, Werner und Roger. Bemerkenswert ist, wie mit jeder weiteren Episode auch der hiesige Kulturraum Gestalt annimmt, gefärbt aus Geschichte und Politik, Schauplätzen und Regionen, Peers und Pop sowie Rebellionen und Toleranzen gegenüber den gesellschaftlichen Verhältnissen jener Zeit.

In einem älteren Interview sagt der Co-Regisseur von «All the Sex I've Ever Had», dass es bei dieser Performance um die Offenheit gehe, die im Raum entsteht – und nicht um eine lüsterne Reise durch die Sexualität anderer Personen. Für mich funktioniert das hervorragend, bis eine der Laiendarstellerinnen auf der Bühne von ihrem jüngsten Lusterlebnis berichtet und uns Zuschauer:innen noch einmal vergegenwärtigt, dass sie 72 werden musste, um das erleben zu dürfen. Unfreiwillig wandern meine Gedanken zu meiner Mutter, die schon bald in demselben Alter sind wird … Nein, so angewandt will dieser durch und durch empfehlenswerte Abend dann doch nicht erlebt werden!

«All the Sex I've Ever Had» zeigt das pralle Leben und schafft es, die menschliche Existenz, die ja vor allem im Heute liebt und leidet, in die Verhältnismässigkeit eines gelebten Lebens zu setzen. Und so ist es den Fünfen zu verdanken, dass das Leben endlich einmal relativ erscheint, staunenswert und tröstlich in der Summe. Man geht – ich gehe – mit Hoffnung aus dem Abend.

Zum Trailer des Stücks

Von Katharina Nill am 07. Dezember 2023 veröffentlicht.

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